Weltkrieg, Erster: Sieger und Besiegte

Weltkrieg, Erster: Sieger und Besiegte
Weltkrieg, Erster: Sieger und Besiegte
 
Das Ende des Ersten Weltkriegs wurde eingeleitet, als Bulgarien Ende September 1918 vor der alliierten Orientarmee kapitulierte. Einen Monat später gab auch die neue osmanische Regierung auf, nachdem der britische Vormarsch in Palästina nicht zu stoppen war. Schon am 3./4. Oktober hatten auch die Mittelmächte an den amerikanischen Präsidenten Wilson ein Waffenstillstandsangebot gesandt, auf das hin für Österreich Waffenruhe eintrat. Die Alliierten konnten nun eine rasche militärische Entscheidung gegen das Deutsche Reich herbeiführen, dessen Truppen immer noch in Nordfrankreich und Belgien standen und riesige Territorien im Osten besetzt hielten. Wilsons europäische Partner witterten im deutschen Waffenstillstandsgesuch eine Falle und drangen erfolgreich auf Bedingungen für Deutschland, die einer Kapitulation nahe kamen. Deutschland musste, ohne Gefangennahme seiner Armee und ohne komplette Besetzung seines Territoriums, seinem Rückzug im Westen und — teilweise — im Osten sowie der Herausgabe von Waffen und der Internierung seiner — sich 1919 schließlich selbst versenkenden — Hochseeflotte zustimmen. Demgegenüber sollten die Alliierten bis zum Rhein vorrücken und rechtsrheinische Brückenköpfe erhalten. Politisch wichtig waren die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich, die Annullierung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk und die Anerkennung von Reparationszahlungen. Am 11. November unterzeichnete eine deutsche Delegation unter Erzberger im Wald von Compiègne diese Vorgaben. Kapitulation und Entmachtung des Deutschen Reichs deuteten darauf hin, dass ein harter Frieden, nicht aber eine Auslöschung Deutschlands bevorstand.
 
Damit schwiegen die Waffen nach 51 Monaten Krieg mit einer Bilanz, die eher erahnen als erfassen lässt, was blinde Politik im Juli 1914 ausgelöst hatte. Bei insgesamt mehr als 74 Millionen mobilisierten Soldaten registrierte man 8,5 Millionen Gefallene, über 21 Millionen Verwundete und an die 8 Millionen Kriegsgefangene und Vermisste. Doch auch das Sterben, Leiden und Hungern der Zivilisten war schwer bezifferbar, ganz zu schweigen von den materiellen Zerstörungen und Verlusten; allein an direkten Kriegskosten wurden 956 Milliarden Goldmark errechnet. Angesichts dieses Resultats blieb selbst bei der siegreichen Koalition eine euphorische Stimmung aus. In Frankreich beispielsweise herrschte große Erleichterung, dass die Waffen schwiegen, daneben gab es Freude und Genugtuung, dass eine gerechte Sache siegreich ausgefochten war. Auf Deutschland lasteten eher Irritationen, denn die auch hier große Erleichterung ging einher mit einem dumpfen Erfassen der unbegreiflich bleibenden Niederlage, einer Unsicherheit angesichts der Revolution und blanker Not. Allenthalben hoffte man auf eine baldige Normalisierung des seit 1914 aus den Fugen geratenen Lebens.
 
 Die Friedensvorstellungen der Alliierten
 
Die Friedensverhandlungen zeigten umgehend eine Fülle schwierigster Probleme. Anfangs dachte man noch an einen traditionellen Friedenskongress. Da jedoch die Sieger Differenzen in der eigenen Koalition fürchteten, die unter dem Einfluss der Besiegten zur Zerreißprobe werden konnten, tagten ab dem 18. Januar 1919 schließlich die 27 Siegerstaaten unter Ausschluss der Verlierer. Auch Sowjetrussland war nicht eingeladen worden, da für das Russlandproblem keine Lösung in Sicht war.
 
Clemenceau, Lloyd George und Wilson strebten erfolgreich einen Kompromiss an, und nacheinander wurden die Forderungen an die einzelnen Verliererstaaten erstellt, zuerst an Deutschland, dem im Mai 1919 seine Bestimmungen überreicht wurden. Mündliche Verhandlungen gab es auch jetzt nicht, und nach einem Notenaustausch, der Deutschland für Oberschlesien immerhin eine Volksabstimmung einbrachte, teilten die Alliierten am 16. Juni ihre Beschlüsse mit und setzten eine kurze Bedenkfrist zur Annahme, bei deren Nichteinhaltung ein militärischer Vormarsch drohte. Daraufhin unterzeichnete am 28. Juni der deutsche Außenminister Hermann Müller den Friedensvertrag im Spiegelsaal des Versailler Schlosses. Diesem Versailler Vertrag mit seinen umfangreichen Bestimmungen folgten die übrigen nach Pariser Vororten benannten Friedensverträge, der von Saint-Germain-en-Laye mit Österreich, Neuilly-sur-Seine mit Bulgarien, Trianon mit dem nun selbstständigen Ungarn und Sèvres mit der Türkei.
 
Der Krieg war bei Ausbleiben einer überfälligen Reform der alten gewachsenen Staatenordnung aus einer Paniksituation begonnen worden. Ein immer totaler werdender Krieg hatte dann eine Besinnung und eine Rückkehr zur Solidarität der Mächte verhindert. Auch 1918/19 gab es keine Verschnaufpause, um die Nichtigkeit der Anlässe des Kriegs zu erfassen. Alteuropa erschien schon während des Weltkriegs wie ein Märchen aus alter Zeit, jetzt lag es mit dem Ende dreier Großmächte — Russlands, Österreichs und des Osmanischen Reichs — und mit dem Ausbluten der übrigen Staaten zertrümmert am Boden, ohne dass ein einziges Problem der Vorkriegszeit einer Lösung nahe gebracht worden wäre. Eine neue Staatenordnung musste zudem vor dem Wust uneingelöster Kriegszielvorstellungen der Mächte erstellt werden, und die beibehaltenen gewaltigen Ambitionen wurden wie 1914 durch eine uferlose Sicherheitsphilosophie vernebelt. Eine Sanierung der Staatenwelt war daher von der Pariser Friedenskonferenz kaum zu erwarten. Immerhin offerierten Russen und Amerikaner neue, aus dem Krieg geborene, globale Lösungsmodelle. Die Bolschewiki propagierten aus der Ferne die Ablösung einer imperialistischen Welt durch solidarische Arbeiterstaaten und irritierten und ängstigten die übrige Welt mit dem Ziel einer Weltrevolution. Wilson, immerhin in Paris präsent, kämpfte für einen liberalen Völkerbund, der mit den Realitäten Europas kollidierte.
 
Unterschiedliche Konzepte
 
Die Leitvorstellungen Frankreichs, der USA und Großbritanniens auf der einen, Deutschlands auf der anderen Seite zeigen die unterschiedlichen Erwartungen. In Frankreich hatte sich im Verlauf des Kriegs das Sicherheitstrauma von 1914 vertieft, und man sah sich als den Hauptleittragenden des Kriegs. Die öffentliche Meinung tendierte zu einem harten Frieden, mit einer strategischen Grenze am Rhein, wo ein oder mehrere von Deutschland abgetrennte Staaten unter alliierter Kontrolle gehalten werden sollten. Deutschland sollte für die angerichteten Schäden zahlen. Auch noch schärfere Friedensregelungen, z. B. eine Zerstückelung ganz Deutschlands, waren im Gespräch. Doch Clemenceau, als »Vater des Sieges« verehrt, folgte dieser Version nicht. Der 78-jährige Ministerpräsident hatte schon 1871 gegen den Frankfurter Frieden gestimmt, jetzt wollte er die ein halbes Jahrhundert zurückliegende Niederlage gegenüber Bismarckdeutschland aus der Geschichte auslöschen. An die französische Kriegszielpolitik anknüpfend, sollte Deutschland als Großmacht zwar erhalten bleiben, doch Frankreich sollte dessen halbhegemoniale Stellung auf dem Kontinent übernehmen. Kern seines Strebens war — als »Garantie physischer Art« — das Vorschieben der geostrategischen Grenze an den Rhein.
 
Geradezu ein Gegenkonzept verfocht der amerikanische Präsident Wilson bei scharfer Frontstellung gegen das alte Staatensystem. Schon 1916 hatte er generell eine neue liberale Weltordnung gefordert, fußend auf einem Völkerbund, der wiederum auf einem »Frieden ohne Sieg« gründen sollte. Im Januar 1917 präzisierte er sein außen- und innenpolitisches Programm, das amerikanischen Interessen entsprach, aber auch eine zukunftsweisende Utopie darstellte. Er zielte auf eine Gleichberechtigung aller Nationen, das Recht auf innere und äußere Selbstbestimmung der Völker, die Freiheit der Meere, eine allgemeine Abrüstung und — als Kern — eben den Völkerbund, die League of Nations. In den berühmten Vierzehn Punkten vom Januar 1918 appellierte Wilson mit diesen Forderungen an das neue Russland, sich wieder in die Front der demokratischen Staaten einzureihen; zumal er fürchtete, dass es zu einer sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit kommen könnte. Von dem schnellen Erfolg seiner Kampagne gegen die Monarchie in Deutschland sowie von Deutschlands Waffenstillstandsersuchen überrascht, konnte er seine Vierzehn Punkte weitgehend als Basis der Friedensverhandlungen durchsetzen. Dies wurde Deutschland in der Note des amerikanischen Staatssekretärs Robert Lansing am 5. November mitgeteilt.
 
Die Auffassungen von Lloyd George korrespondierten weitgehend mit denen Wilsons. Der letzte große liberale Premier Großbritanniens konnte sicher sein, dass Deutschland seine Kolonien und Kriegsmarine, zudem den Großteil seiner Handelsflotte hergeben musste. Damit war die seit der Tirpitz'schen Flottenpolitik zentrale Bedrohung Großbritanniens durch Deutschland beseitigt, und da sich Lloyd George durch die nun übermächtigen USA eher gestützt als bedrängt sah, kehrte er zu jener traditionell liberalen britischen Politik des 19. Jahrhunderts zurück, die in ihren Leitideen viele der Vorstellungen Wilsons schon vorweggenommen hatte. Aus traditionellem Gleichgewichtsdenken beunruhigte ihn die sich abzeichnende kontinentale Hegemonie Frankreichs. Zudem sorgte er sich um Störungen des Handels sowie — mehr noch als Wilson — um ein Überspringen des Bolschewismus von Russland nach Deutschland und eine hieraus resultierende Kooperation dieser Staaten.
 
Deutschlands Verdrängung der Niederlage
 
Im Gegensatz zu den Siegermächten verfügte Deutschland über keine starke Führung. Von inneren Zerreißproben geschüttelt, war man erst auf dem Weg zur Ausgestaltung der Weimarer Republik; die Nationalversammlung sollte die Verfassung am 11. August 1919 verabschieden. Die bei anhaltender Seeblockade hungernde Nation war von separatistischen Bewegungen bedroht, und selbst die Entscheidung für eine parlamentarische Republik musste hart erkämpft werden. Unter der gerade in der Friedensfrage keineswegs souveränen Leitung des Sozialdemokraten Ebert setzte die deutsche Führung darauf, dass Friedensgespräche unter deutscher Beteiligung zu einem Remisfrieden führen würden. Die Vierzehn Punkte und die Lansingnote galten als bindender Vorvertrag, und das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen schien garantiert, zumal man — um die Alliierten nicht zu verschrecken — den sich in dieser Zeit anbietenden Anschluss Deutsch-Österreichs an Deutschland nicht verfolgte. Forciert betrieben wurde demgegenüber die geforderte Einfügung des Deutschen Reichs in eine liberaldemokratische Staatenordnung, wobei man sich auch in der Reparationsfrage gesprächsbereit zeigte. Alle Anzeichen für einen harten Frieden wurden hingegen konsequent verdrängt und die militärische Niederlage immer noch nicht eingestanden. Bezeichnend ist Eberts Begrüßung der heimkehrenden Soldaten in Berlin: »Kein Feind hat euch überwunden! Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben.« Eine so schillernde Aussage mochte den Alliierten die Selbstverständlichkeit eines Verhandlungsfriedens suggerieren. Doch auch die ignorante und auftrumpfende Machtpolitik des Kaiserreichs schimmerte wieder durch, zumal sich die demokratische Regierung innenpolitisch auf die alten militärischen Kader stützen zu müssen glaubte, deren Führung nur allzu dürftig reformiert worden war. Den Alliierten schien die demokratische Erneuerung Deutschlands bald von provokanten, traditionell machtpolitischen Verhaltensmustern überlagert, so als der — über den Gang der Versailler Konferenz empörte — deutsche Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau einen verbalen Gegenangriff auf die Alliierten probte. Auch Ministerpräsident Philipp Scheidemann attackierte die Alliierten mit moralischen Vorwürfen und lehnte die Annahme des Vertrags barsch ab.
 
 Vom Versailler Vertrag zum Völkerbund
 
Gewinner und Verlierer
 
Schon während der Pariser Konferenz standen die Zeichen für die künftige Weltfriedensordnung, deren allgemeine Konturen zunächst aufzuzeigen sind, auf Sturm. In Fernost hatte Japan im Krieg militärisch nur das deutsche Pachtgebiet Kiautschou erobert, im Übrigen aber als Kriegslieferant der Westmächte einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Weit gesteckte Protektoratspläne hinsichtlich Chinas konnte es auf der Konferenz nicht durchsetzen, es wurde dagegen mit einem Völkerbundsmandat für die ehemaligen deutschen Südseekolonien abgespeist. Im Nahen Osten hatte das Osmanische Reich als Tummelplatz der Kriegszielpolitik anderer Mächte gedient; dieser Staat, der mit den Massakern an Armeniern 1915/16 den ersten Genozid des Jahrhunderts zu verantworten hatte, verlor alle nichttürkischen Gebiete und auch die Meerengen und Konstantinopel wurden unter internationale Kontrolle gestellt. Wie bei allen Verliererstaaten wurden die Friedensbedingungen nur auf ultimativen Druck der Sieger und aufgrund des Fehlens von Möglichkeiten zum Widerstand angenommen. Neue Mandatsherrschaften Frankreichs in Syrien und Großbritanniens in Irak und in Palästina entstanden. Mit der Annullierung des Friedens von Brest-Litowsk wurde die Auflösung des russischen Imperiums nicht hinfällig, auf die neuen Staaten Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen wartete aber noch deren Selbstbehauptung gegenüber dem neuen Russland. Aus der schon 1918 in die Staaten Österreich und Ungarn aufgeteilten Habsburgermonarchie entstanden zusätzlich die Tschechoslowakei und Jugoslawien. Österreich hatte ferner Südtirol bis zur Brennergrenze, Görz, Triest, Istrien und Teile des Küstenlandes an Italien abzugeben. Das zu einem Kleinstaat geschrumpfte, nunmehr deutschsprachige Österreich wurde mit einem Verbot des Anschlusses an Deutschland belegt und erhielt nur das Burgenland von Ungarn. Schlimm traf es auch Ungarn, das zwei Drittel des Landes an seine Nachbarn verlor und gleichfalls zu einem Kleinstaat abstieg. Bulgarien musste alle großbulgarischen Träume begraben und verlor den Zugang zur Ägäis an Griechenland, kam aber insgesamt glimpflich davon. Von den Siegermächten wurde Rumänien mit Bessarabien, dem östlichen Banat, der Bukowina und Siebenbürgen reich bedacht. Italien dagegen kritisierte ungeachtet seiner territorialen Erweiterungen die Friedensbestimmungen heftig, weil seine Ansprüche auf Dalmatien und die Stadt Fiume sowie auf ein kleinasiatisches Mandat unerfüllt blieben. Grundlage all dieser Veränderungen und staatlichen Neuschöpfungen war das Nationalitätsprinzip, doch kamen — abgesehen von einem Ausspielen der Macht der Sieger — allenthalben auch »historische Rechte« wie bei Polen mit dessen piastischer Tradition oder geographische und wirtschaftliche Überlegungen wie bei der Tschechoslowakei ins Spiel. Zudem sorgte die gewachsene ethnische Struktur Europas dafür, dass aufs Neue — besonders deutlich in Jugoslawien und in der Tschechoslowakei — multinationale Staaten gegründet wurden. Die neuen Staaten wurden von Exilpolitikern und nationalrevolutionären Kräften im Lande auf den Weg gebracht und mussten in vielfachen Kämpfen durchgesetzt werden. Auseinandersetzungen zwischen Polen und Litauern um Wilna oder Polen und Tschechen um Teschen wiesen auf neue Spannungsfelder hin. Selbst Plebiszite waren von Kämpfen begleitet, so die Abstimmung in Oberschlesien, wo Polen schließlich die wichtige Industrieregion erhielt, und in Kärnten, wo Österreich sich behauptete. Von einer Plausibilität der neuen Staatsterritorien von Finnland bis Griechenland und damit von Stabilität der — in der Neuzeit — traditionslosen Staaten konnte daher nur schwerlich die Rede sein, und eine Spaltung dieser Länder in Revanchisten und Verteidiger des Status quo war umso eher zu erwarten, als all diese Klein- und Mittelstaaten auch Interessenfelder der Großmächte markierten.
 
Wilsons Kompromiss und Scheitern — Der unfertige Völkerbund
 
Kerndilemma in Paris war aber der deutsch-französische Gegensatz, und hier konnte Clemenceau zunächst seine Politik der »Garantie physischer Art« gegen das Nein der Angelsachsen nicht durchsetzen. Ersatzweise kam das linke Rheinufer zeitweilig unter alliierte Besetzung und Frankreichs Sicherheit sollte — nach Ratifikation der Friedensverträge — von den USA und Großbritannien garantiert werden. Darauf forderte der französische Ministerpräsident das Saargebiet, doch Lloyd George und Wilson wollten mit dem Saarland kein Elsass-Lothringen-Problem unter umgekehrten Vorzeichen schaffen; das Gebiet wurde für 15 Jahre bis zu einer Volksabstimmung autonom und dem Völkerbund unterstellt. Nach dem Scheitern seiner territorialen Projekte konzentrierte sich Frankreich auf eine Beseitigung der wirtschaftlichen Überlegenheit Deutschlands. Man lebte noch in einem von der Kohle dominierten Industriezeitalter und Deutschland sollte fast die Hälfte seiner Bestände abtreten oder abliefern. Zudem verlor Deutschland durch Abtretung Lothringens und das Ausscheiden Luxemburgs aus dem deutschen Wirtschaftsverband 80 Prozent seiner Eisenerze. Diese Projekte waren gekoppelt mit enormen Reparationsansprüchen, über deren Höhe sich die Siegermächte aber — mit Ausnahme eines Vorschusses — vorerst nicht einigen konnten. Der weitgehende Triumph Frankreichs in der Wirtschafts- und Reparationsfrage traf Deutschland besonders stark, reichte aber letztlich nicht aus, um die wirtschaftlichen Machtverhältnisse zwischen beiden Staaten umzukehren. Territorial verlor Deutschland neben Elsass-Lothringen Posen, große Teile Westpreußens, das Memelgebiet, Teile Oberschlesiens und Nordschleswig sowie Eupen-Malmedy im deutsch-belgischen Grenzgebiet, das heißt etwa ein Siebtel des Reichsterritoriums und ein Zehntel der vormaligen Bevölkerung. Schließlich hatte Deutschland sich mit einem Heer von 100000 Berufssoldaten und einer Kriegsmarine von 15000 Mann zu begnügen; Offensivwaffen wurden verboten und ein 50 km breiter Streifen rechts des Rheins entmilitarisiert.
 
Mit diesem Vertrag schien schließlich doch noch eine akzeptable Zusammenfügung der Positionen Clemenceaus und Wilsons gelungen, wenn auch vieles — so die beschnittene, aber nicht beseitigte Großmachtposition Deutschlands — noch keineswegs abschließend geklärt war. Vor allem aber bildete der Versailler Vertrag mit den übrigen Vorortverträgen und den mit Frankreich vorgesehenen Sicherheitspakten eine Einheit, die einen grundlegenden und auch erfolgreichen Umbau Europas durchaus denkbar erscheinen ließ. Zudem waren den Verträgen jeweils die Bestimmungen über den neuen Völkerbund vorangestellt, der die kollektive Sicherheit verbürgen sollte. Doch dieses Paket von Vereinbarungen und Absichtserklärungen scheiterte, als die USA im Januar 1920 die Verträge nicht ratifizierten und damit eine Kettenreaktion auslösten. Auch die amerikanische Sicherheitsgarantie für Frankreich und als Folge die britische waren damit hinfällig, ebenso eine Mitgliedschaft der USA im Völkerbund. Damit stellte das Pariser Vertragswerk einen doppelten Torso dar. In letzter Minute waren die notdürftig zusammengefügten Konzepte Clemenceaus und Wilsons wieder auseinander gefallen. Neben Clemenceaus misslungenem Macht- und Siegfrieden stand — noch dazu ohne deutsche und russische Beteiligung — Wilsons völlig unfertiger Völkerbund mit Abrüstungsbestimmungen nur für den Verlierer. Frankreich musste sich düpiert und Deutschland zu einer Revisionspolitik gegenüber jenem Versailler Vertrag ermutigt fühlen, der Deutschland zu allem Übel auch noch die Schuld am Weltkrieg aufhalste, was als schreiendes Unrecht angesehen wurde.
 
Prof. Dr. Günter Wollstein
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Weltkrieg, Erster: Sieger und Besiegte
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Weltkrieg, Erster: Die soziale Dimension des Krieges
 
 
Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, herausgegeben von Wolfgang Michalka. München u. a. 1994.
 Rauchensteiner, Manfried: Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg. Graz u. a. 21994.
 Wollstein, Günter: Theobald von Bethmann Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende. Göttingen u. a. 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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